Quantcast
Channel: Internationale Arbeit – Malte Spitz
Viewing all articles
Browse latest Browse all 31

Reisebericht Chile

$
0
0

Teil 1 Chile:

Besuch bei Kanal 3 in La Victoria, Santiago, Chile

Besuch bei Kanal 3 in La Victoria, Santiago, Chile

Nach Ankunft am Samstagmittag, 4. Juni, in Santiago wo momentan tiefster Winter ist, und real 20 Stunden Anreise aus Deutschland, gab es ein halbtägiges Briefing zur Situation in Chile und Argentinien, die Vorstellung der Stiftungsprojekte und Partnerinnen und Partner. Am Sonntag ging es dann nach La Victoria, einem der ärmeren Stadtteile von Santiago, wo vor über 50 Jahren die ersten größeren Landbesetzungen in der Region stattfanden. Die Infrastruktur, wie Straße und Stromzugang, wurde in den letzten Jahren ausgebaut, die Armut ist aber deutlich sichtbar, die Wohnungen und Häuser oft nur notdürftig gegen Regen und Kälte geschützt. Kriminalität ist nicht offen erkennbar, aber wird von den Menschen vor Ort immer wieder als Problem benannt, vor allem die organisierte Drogen- und Bandenkriminalität die regional aktiv ist. In La Victoria haben wir Kanal 3 besucht, ein privates Projekt aus der Zivilgesellschaft heraus, Zugang zu Medien zu ermöglichen, Medienkompetenz und Medienbildung zu vermitteln und den Zugang zum Internet anzubieten. Konkret heißt dies ein Bürgerfernsehen, was in dem Stadtteil rund 50.000 Menschen analog über Antenne erreicht, was aber ohne offizielle Sendelizenz arbeitet. Dort wird ein „Community Fernsehen“ betrieben, sprich eigene Nachrichten präsentiert und vor allem Inhalte wie Kindercartoons, Dokumentationen oder Mitschnitte die unter freien Lizenzen stehen verbreitet. Der Sender wird ehrenamtlich organisiert und betrieben und sendet vor allem in den Abendstunden und am Wochenende, teilweise mehr als acht Stunden am Tag. In dem Haus wird auch eine Community Plattform aufgebaut, quasi ein Intranet im Stadtteil wo man untereinander Informationen und Inhalte via W-Lan austauschen kann. Der Internetzugang im eigentlichen Sinne ist darüber nicht möglich, auch wenn dies perspektivisch das Ziel sein soll. Die Plattform ist OpenSource und basiert auf Lorea. Es soll als Alternative zu kommerziellen Netzwerken dienen, und den Wissensaustausch auch ohne Zugang zum Internet ermöglichen. Das Projekt ist erst neu gestartet, der Zuspruch mit mehreren Hundert Nutzern aber bereits gegeben. Teile des Projekts, gerade auch die Funktechnik, werden auch durch ein Mitglied des CCC unterstützt. Dritte Säule des Projekts sind eintägige Computerschulungen, wo Grundkenntnisse vermittelt werden und Kinder und Jugendliche nicht nur aus dem eigenen Stadtteil für anreisen. Die Ausstattung für diesen Computerraum ist eine Spende von einem ähnlichen Bürgerprojekt aus Madrid. Auch wenn die öffentlichen Angebote teilweise in einem rechtlichen Graubereich arbeiten, so zeigt es doch wie wichtig den Menschen der Zugang zu Medien ist, vor allem weil die Vielfalt in Chile begrenzt ist und wenn eine sehr eindeutige politische und soziale Ausrichtung vornimmt. Spenden für das Projekt sind mehr als willkommen, wer also noch analoge Schnittpulte hat, Technik zum Streamen oder auch größere Funkantennen die nicht mehr benötigt werden, einfach melden! Das Projekt in La Victoria findet in Kooperation statt mit Plataforma Cultura Digital, ein Projektpartner der HBS der auch die spätere Abendveranstaltung mit organisiert hat.

Am Montag standen dann erstmal einige Interviews an, vor allem zu Fragen Digitale Demokratie aber auch Datenschutz. Anschließend fand ein Treffen mit Iván Cuoso und Darwin Alvarado statt, die sich im Bereich der politischen und zivilgesellschaftlichen Vernetzung engagieren und den Aufbau demokratischer Strukturen nach der Pinochet-Zeit, als junge Menschen, mit vorangetrieben haben. Themen waren vor allem die politische Situation in Chile. Chile wird im Rest der Welt immer gerne als „Musterknabe“ Südamerikas präsentiert, gerade was Marktwirtschaft, Stabilität etc angeht. Dieses Bild trügt aber erheblich, da es massive soziale Verwerfungen gibt, eine Konzentration von politischer und ökonomischer Macht auf einige wenige Familien und die Teilhabe am sozialen Leben, für viele Menschen sehr schwierig ist, siehe die aktuellen Bildungsproteste. Monopole im Bereich der Daseinsvorsorge treiben Preise für Strom nach oben und Kosten für Telekommunikation sind enorm. Auch die ökologischen Probleme sind offensichtlich, spätestens wenn man fast täglich den Smog in Santiago sieht und man spürt wie rein die Luft ist, wenn es einmal regnet. Diese ganzen Fragen werden aber politisch kaum angegangen.

Gebäudedämmung scheint es nicht zu geben, trotz kälterer Jahreszeiten wo geheizt werden muss, ist der energetische Stand eigentlich aller Häuser, privat wie öffentlich, katastrophal. Nachmittags gab es ein Treffen mit dem Ersten Gesandten der Deutschen Botschaft, über Fragen des deutschen Engagements in Chile und die Bewertung der politischen Lage. Spannende neue Ideen gab es dann nachmittags, als die Bibliothek des Senats besucht wurde. Die Senatsbibliothek ist auch für die Öffentlichkeitsarbeit des Senats verantwortlich und verantwortet gleichzeitig auch den wissenschaftlichen Dienst des Parlaments. Sie unterstützen sehr stark die Öffnung hin zu freien Lizenzen und arbeiten auch mit Wikimedia Chile zusammen, um zum Beispiel historische Parlamentsunterlagen zugänglich und einordbar zu machen. Gleichzeitig gehen sie neue Wege im Bereich Kommunikation mit den BürgerInnen, zum Beispiel gibt es ein Fachblog wo offiziell Gesetzentwürfe mit der juristischen Community diskutiert werden, eine Übersetzung von zentralen Gesetzen in leichte Sprache oder Comics, ein digitales historisches Archiv der parlamentarischen Arbeit und eine Sammlung der Parlamentsdokumente in maschinenlesbaren Formaten unter freier Lizenz. Diese Öffentlichkeitsarbeit die auf Transparenz setzt, war auch Teil des Gesprächs mit dem Senatspräsidenten Guido Girardi, vergleichbar mit unserem Bundesratspräsidenten, nur das der Senat in Chile als zweite Kammer neben dem Nationalparlament aktiver im parlamentarischen Verfahren mitarbeitet. Girardi war auch Ausschussvorsitzender des Telekommunikationsausschusses und an der Gesetzgebung zur Netzneutralität beteiligt. Das Gesetz stellt ausdrücklich den Wert der Netzneutralität nach vorne und propagiert diese auch, ist aber im konkreten dann aber auch nur ein Gesetz was Transparenz in dem Bereich vorschreibt und nicht bestimmte Praktiken von Seiten der Telekommunikationsanbieter untersagt. Das Gesetz ist nicht schlecht, aber wie gut und in der Praxis wegweisend es sein wird, muss sich erst noch beweisen. Mit Claudio Ruiz, Direktor von Derechos Digitales, gab es dann ein gemeinsames Abendessen. Derechos Digitales ist besonders im Bereich Urheberrecht aktiv und hat dort in den letzten Jahren etliche Verbesserungen vorangetrieben, was Zugang zu Informationen, Ende der massenhaften Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen im privaten Bereich und auch was Haftungsfragen von Plattformbetreibern angeht. Eingeengt wird die Gesetzgebung durch die zahlreichen Freihandelsabkommen, vor allem mit den USA, aber auch im Pazifikraum die Möglichkeiten einer weitergehenden Reform einschränken. Aktuell soll es ein neues Abkommen (TPP) im Pazifikraum geben, was sehr stark wieder die ansonsten gestrichenen Punkte aus den Entwürfen zum ACTA-Abkommen beinhalten soll. Hier wird gerade versucht das schlimmste noch zu verhindern.

Am Dienstag fand dann eine Besichtigung der Villa Grimaldi statt, Partner der HBS in einer Arbeitslinie zu neuen Konzepten in der Menschenrechtspädagogik. Die ehemalige gutbürgerliche Farm, war während der Pinochet-Diktatur ein Folterzentrum. Tausende Menschen wurden in den Jahren hier gefoltert und Hunderte sind von hier aus verschwunden. Besonders Elektroschocks wurden eingesetzt, Käfige von 90cm Höhe wo man teilweise wochenlang drin gefangen wurde. Wie exzessiv vorgegangen wurde, zeigt ein bekannter Fall, das einmal eine ganze Hochzeitsgesellschaft dorthin verschleppt wurde und teilweise gefoltert wurde, um einzelne Personen die unter Verdacht standen dann einzubehalten. Die Dokumentation ist sehr schwierig, da es kaum Dokumente gibt und die Täter über den Verbleib von Foltergefangenen schweigen. Eine übliche Praxis in Chile war aber, die zu Tode Gefolterten oder auch ermordeten Gefangenen, Metallteile um den Körper zu binden, sie mit Militärflugzeugen die über 130km ans Meer zu fliegen und dann auf offener See abzuwerfen. Teilweise wurden allerdings Leichen an Land gespült. Die Arbeit der Villa Grimaldi wird auch von der EU gefördert, da neben dem historischen Ort auch eine stärkere Dokumentationsarbeit entstehen soll und auch ein Museum aufgebaut werden soll.

Mittags gab es dann ein ausführliches Gespräch mit Manuel Baquedano, der nicht nur die Grüne Bewegung in Chile massiv vorangebracht hat, sondern auch Vorsitzender der Föderation der Grünen Amerikas ist, also der Grünen Parteien von Nord-, Mittel- und Südamerika. Anschließend gab es ein Gespräch mit Sara Larraín, die bekannteste Umweltschützerin des Landes und ehemalige Präsidentschaftskandidatin. Hier ging es um die Vernetzung in der Umweltbewegung, den Stand nach dem Aufkommen der Proteste der letzten Wochen und wie die Ansprache aller Generationen bei Umweltfragen möglich sein kann. Am Abend gab es dann zum Auftakt einer neuen Veranstaltungsreihe die von der HBS und der Plataforma Cultura Digital organisiert wird, eine Diskussion zu den Möglichkeiten der neuen Medien für demokratischen Aufbruch. Teilweise wurden grundsätzliche demokratietheoretische Fragen aufgeworfen, es ging aber auch viel um die Rahmenbedingungen, die diese neuen Möglichkeiten benötigen, bspw. ein freies Internet und der freie Zugang zu diesem.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 31